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Beim grossen Meerschiff in Setúbal

Unglaublich, nach vier Wochen haben wir es endlich geschafft. Mit Beharrlichkeit und dank dem unvermittelten Okay von Senhor Santa ging plötzlich alles sehr schnell und unbürokratisch. Wir haben die Erlaubnis, für einen Tag, von 08.00 Uhr bis 24.00 Uhr, im Terminal Roll-on Roll-off im Hafen von Setúbal zu bleiben, um dort zu fotografieren.

Wir werden eskortiert, im Konvoi fahren wir zum Terminal, bei der Pforte ein knapper Gruss, die Barriere öffnet sich und wir sind auf der anderen Seite, in der internationalen Zone. Unmittelbar am Kai sehen wir das von uns erträumte Bild endlich in real. Die Dimensionen des über 600 Tonnen schweren Autotransporters sind überwältigend. Ein Gefühl von Schwindel und grosser Freude zugleich.

Wir hatten den Plan, die Situation vor Ort zu sichten, den Bildausschnitt zu bestimmen, unser Wohnmöbel darin zu platzieren, um dann in aller Ruhe bei geeigneten Lichtverhältnissen zu fotografieren.
Doch es kommt anders. Was uns bevorsteht sind knappe 15 Stunden unter höchster Anspannung.
Der Boden fällt stark ab. Eine Situation, auf die wir nicht vorbereitet sind. Es fehlt uns an geeignetem Material, um das Gefälle entsprechend auszugleichen.
Herr Carvalho, die uns zugewiesene Begleitperson, nimmt seine Aufgabe überaus ernst. Wir müssen viel erklären, argumentieren und verhandeln. Er ist im Allgemeinen sehr redselig und geniesst es zu plaudern.
Wir beginnen zu improvisieren und das in grosser Eile. Bald wird Soraya aufwachen und lautstark nach Mama verlangen und Selima den von uns versprochenen Strandspaziergang einfordern.
Plötzlich, ein Holzkeil verrutscht, das Wohnmöbel steht schief. Ohne Lösung des Problems gehen wir in die angeordnete Mittagspause.

Das Tagesmenü in der Hafenkantine ist Bacalhau assado. Köstlich und genau das Richtige in diesem Moment.
Die Pause tut gut, doch die Anspannung bleibt, denn alle weiteren Versuche, die vertrackte Situation zu lösen, misslingen. Bis am frühen Nachmittag gelingt es uns nicht das Möbel richtig zu positionieren.

Und dann ein Ruck, das Geräusch von berstendem Holz und ein dumpfer Schlag. Unser Wohnmöbel geht zu Boden. Der Sturz reisst zwei Stützen aus der Halterung, eine bricht entzwei.
Was nun? Abbrechen? Alles aus?

Da ist Ravi, ein freundlicher, junger Inder aus Mumbai, der auf dem Schiff arbeitet.
Als Zeuge des Zwischenfalls bleibt er bei uns, versucht zu helfen und erzählt aus seinem Leben. Er zeigt uns Fotos von seiner Frau, der Hochzeit und der Wohnung in Mumbai. Ravi freut sich, denn nach fast neun Monaten auf dem Schiff wird er seine Frau bald wiedersehen.
Auf die Frage, wie man in Indien mit Tagen umgeht, an denen alles zu misslingen scheint, antwortet er ohne zu zögern und sehr bestimmt: „You have to go on.“

Schliesslich entscheidet sich Matteo mit einer unglaublichen Entschlossenheit gegen die Resignation. Fachgerecht werden die Bruchstellen verleimt und die Spuren des Aufpralls sorgfältig mit Pinsel und Farbe retouchiert. Dann nehmen wir uns endlich die notwendige Zeit und werden fündig. Die Überreste einer angeschwemmten Holzpalette dienen als Grundlage, das Möbel solide zu positionieren.
Geschafft! Und das nicht zu spät, denn vor erst vier Tagen war die Sommersonnenwende.
So hat es, trotz fortgeschrittener Stunde, noch immer ausreichend Tageslicht. Matteo beginnt zu fotografieren und ich gehe mit den Kindern auf den versprochenen Strandspaziergang.

Zwei Stunden später setzt die Nachtbeleuchtung ein und das aufkommende Kunstlicht beendet die Arbeit hinter der Kamera. Wir setzen das Wohnmöbel zurück auf den Pritschenwagen.
Um 22:47 Uhr fahren wir zur Pforte, ein knapper Gruss, die Barriere öffnet sich, wir verlassen den Terminal und winken Frisia und Ravi zum Abschied zu.



Epilog:

Knapp ein Monat ist vergangen seit wir uns aufmachten, um die Fotografie beim grossen Meerschiff zu realisieren. Das imaginäre Bild entstand aus einer romantischen Vorstellung der Schiffe, die von der weiten Welt erzählen und aus der Faszination für ihre Dimensionen.

Die gigantischen Containerschiffe, die mehrmals pro Woche im Terminal XXI in Sines anlegen, haben uns sehr beeindruckt. Den momentanen Rekord hält das Schiff Mærsk Mc-Kinney Møller mit einer Ladekapazität von 18`270 ISO-Containern à 20 Fuss, was einem Nutzvolumen von rund 604`462 m³ entspricht. Weniger als fünf Schiffsladungen würden ausreichen, um das Volumen der Twin Towers nachzubilden.

Grosse Zahlen. Wir beginnen zu träumen. Welche Fläche würden wir benötigen, um die gesamte Fracht eines dieser Containerschiffe auszulegen und wie würde es sich wohl anfühlen, in diesem Bild herumzuschlendern? Welche Inhalte würden sich offenbaren und welche Rätsel sich uns stellen?


Setúbal, Portugal, 25. Juni 2014
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